Kaiser, Werner & ein heißes Saisonfinale: 5 Geschichten zum Spiel gegen die Löwen
02. Juli, 2020 09.00 Uhr
Das Wunder von Meppen
In der langen Geschichte des TSV 1860 München haben sich zwei Auswärtspartien derart in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, dass bereits das Aussprechen des Ortsnamens bei vielen Löwenfans einen Schauer auslöst. Das eine Spiel, das auch heute noch im Rückblick große Emotionen auslöst, ist das verlorene Europacup-Finale der Pokalsieger vor 100.000 Zuschauern in Wembley im Jahr 1965 gegen West Ham United. Und das andere Spiel war das in … Meppen.
Was sich am 11. Juni 1994 im Emsland ereignet hat, kann das überzeugte, blau-weiße Sechzigerherz nur mit Superlativen wie „Sternstunde“ oder gar „Fußballwunder“ umschreiben. Zu unvorstellbar erschien damals die Aussicht, was am Ende der Saison 1993/94 eintreten könnte, und was sich am letzten Spieltag in Meppen auf dramatische Weise zuspitzen sollte. 1860 München hatte es vor dem Anpfiff am letzten Spieltag in eigener Hand, Fußballgeschichte zu schreiben und so kam es in Meppen zum Aufstiegsshowdown zwischen den Löwen und dem FC St. Pauli. Beide Konkurrenten waren punktgleich, aber die bessere Tordifferenz sprach für die Löwen. Noch nie zuvor war eine Mannschaft aus dem Amateurbereich direkt in die Bundesliga durchmarschiert. An diesem 11. Juni 1994 hätten 30.000 Eintrittskarten an Löwenfans verkauft werden können, aber das Emslandstadion fasste lediglich 16.000 Zuschauer. In der 3. Minute nahm das Fußballwunder dann bereits seinen Lauf: Sechzig-Stürmer Peter Pacult stand urplötzlich vor dem Meppener Torwart und erzielte mit dem ersten nennenswerten Angriff die Auswärtsführung. Es sollte das Tor für die Ewigkeit sein. Kurz nach der Halbzeit lag St. Pauli beim VfL Wolfsburg bereits mit 0:3 im Rückstand. Die mitgereisten Fans erlebten die zweite Halbzeit in Meppen wie in Trance. Es war tatsächlich geschafft. Nach dem Schlusspfiff strömten die Fans auf das Grün. Bärtige Männer, die wie Wikinger aussahen, knieten auf dem Rasen und weinten vor Glück. Andere Fans schnitten Fetzen aus dem Rasen, wieder andere zerlegten das Gebälk, in welches Peter Pacult das historische Tor erzielt hatte. Ein Fan hielt ein selbstgemachtes Transparent in die Fernsehkameras, welches an den bekannten Anti-AIDS-Slogan aus den 90er Jahren erinnerte: „Gib BAYERN keine Chance“.
Werner „Beinhart“
Vater dieses Erfolgs war „Löwendompteur“ Werner „Beinhart“ Lorant. Der gelernte Maler und Anstreicher, Jahrgang 1948, schnürte als Profi unter anderem für Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt (Gewinn des UEFA-Cups 1980) und Schalke 04 die Fußballschuhe, ehe nach seiner aktiven Laufbahn zahlreiche Stationen als Trainer im In- und Ausland folgten. Am längsten – knapp zehn Jahre – war Lorant ohne Unterbrechung beim TSV 1860 München unter Vertrag. Löwen-Präsident Karl-Heinz Wildmoser verpflichtete den gelernten Verteidiger 1992 für den damaligen Drittligisten. Die Art und Weise, wie Lorant mit seinen Spielern umging, kann vorsichtig als „rau“ bezeichnet werden. Er war für sein cholerisches Temperament bekannt. Oftmals wurde er wegen seiner Unbeherrschtheit Schiedsrichtern und gegnerischen Spielern gegenüber auf die Tribüne verwiesen, mit langen Spielsperren und hohen Geldstrafen bedacht. Bis heute gilt Lorant als der Trainer der Sechziger. Einige Sprüche und Aussagen sind bis heute legendär. Hier einige warmherzige Beispiele aus dem unerschöpflichen Repertoire des Werner „Beinhart“: „Was soll ich mit den Spielern reden, ich bin doch kein Pfarrer“, „Die Spieler sollen rennen und das Maul halten“, „Der Star der Mannschaft bin ich“, „Der Schiri kann froh sein, dass ich ihm keine geschmiert habe“, „Ich wechsle nur aus, wenn sich einer ein Bein bricht“ … Noch Fragen?
Alter schützt vor Tor-Heit nicht
Er ist wahrlich eine Institution beim TSV 1860 München. Trotz seiner mittlerweile 35 Jahre verkörpert Sascha Mölders immer noch den absoluten Torgaranten und vermittelt den Löwenfans mit seiner körperbetonten Spielweise und seinem unermüdlichen Einsatzwillen wie kaum ein anderer den „Sechziger-Spirit“. Mit 15 Treffern und 15 Vorlagen – alleine drei am vergangenen Spieltag beim 4:2-Auswärtssieg der Löwen in Großsapach – trug der gebürtige Essener in der laufenden Spielzeit maßgeblich zum Aufschwung der Löwen zu einem Aufstiegsaspiranten bei. Knapp hinter Kwasi Okyere Wriedt (FC Bayern München II) bedeutet dies für den Vollblutstürmer Rang zwei der Scorerliste. Der FC Ingolstadt 04 tut am Samstag gut daran, den „alten“ Sascha keine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Der Kaiser und der König
Statt zum FC Bayern wollte Franz Beckenbauer als Jugendlicher unbedingt zu 1860 München. Bis er 1958 auf einen zornigen Löwen-Spieler traf – Gerhard König verpasste dem „Kaiser“ die folgenreichste Ohrfeige der deutschen Fußballgeschichte. Der junge Franz Beckenbauer spielte als Zwölfjähriger für den SC 1906 aus Obergiesing und es war eigentlich klar, dass er nach Saisonende zu seinem Lieblingsverein, den „Sechzigern“, wechseln würde. Zum Saisonabschluss im April 1958 fand ein Jugendturnier in Neubiberg südöstlich von München statt: Die Schülermannschaft vom großen TSV 1860 traf auf den kleineren SC 1906 aus Obergiesing. Ein feingliedriger SC-Außenstürmer, Jahrgang 1945, konnte besser mit dem Ball umgehen als alle seine Altersgenossen und schoss so viele Tore, dass er zur nächsten Saison für die Sechziger auflaufen sollte. Außerdem stammte dieser Beckenbauer aus dem Arbeiterstadtteil Giesing, traditionell Einzugsgebiet der Löwen, und war erklärter TSV-Fan. Ausgemachte Sache: Gleich fünf Teamkameraden vom SC würden ihm nach der Spielzeit zu 1860 folgen. Einer seiner neuen Mitspieler sollte Gerhard König sein, Jahrgang 1944. Er spielte seit frühester Jugend bei den Löwen und war als Torwart so talentiert, dass Trainer eine große Zukunft sahen und ihn in die bayerische Auswahl berufen hatten. Dieser erinnert sich: „Gegen den SC 1906 half ich überraschenderweise als Verteidiger aus. Beckenbauer war mein Gegenspieler. In einer Szene foulte ich ihn ziemlich hart, da warf er mir einige deftige Beleidigungen an den Kopf. Ich wartete, bis der Schiedsrichter sich wegdrehte, und verpasste ihm eine Watsch´n. Beckenbauer war deshalb stinksauer. Ich hatte die Szene nach dem Spiel schon wieder vergessen und ärgerte mich über unsere knappe 1:2-Niederlage. Bald danach bekam ich mit, dass er nicht zu uns wechseln würde, sondern zum FC Bayern. Und erst viele Jahre später erfuhr ich den Grund dafür.“ Der Kaiser war „not amused“ ob dieser handfesten „Begrüßung“ durch den vermeintlich neuen Mannschaftskollegen: „Für diesen Verein spiele ich nicht“; sagte er und entschied sich für den FC Bayern München, der damals noch den Charme eines „Provinzklubs“ ausstrahlte. Gerhard König soll danach einmal gesagt haben: „Der soll froh sein, dass ich ihm eine gelangt habe.“ Eigentlich nicht von der Hand zu weisen.
Mitreißendes Hinspiel
14.700 (!) Zuschauer verfolgten das Hinspiel der beiden bayerischen Kontrahenten am 16. Dezember des Vorjahres im Audi Sportpark. Der gastgebende FC Ingolstadt 04, zum Ende der Hinrunde auf Rang zwei platziert, empfing den Tabellenzehnten. Die ersten zehn Minuten waren vor allem durch viele kleine Fouls geprägt. Dann aber erhöhten beide Teams die Schlagzahl: Mit dem ersten Torschuss der Partie sorgte Marcel Gaus aus 17 Metern für das 1:0 in der zehnten Minute. Die Löwen zeigten sich davon aber nicht geschockt. Erst vollendete Owusu eine Bekiroglu-Flanke per Kopf (16.), dann legte er mustergültig für Mölders auf, der zum 2:1 vollstreckte (19.) Dies war auch der Pausenstand. Nach dem Wechsel drückten die Schanzer mächtig auf den Ausgleich. Nach gut einer Stunde kam Denis Eckert Ayensa zu einer Riesenchance, doch sein Heber über Hiller landete an der Unterkante der Latte und sprang von der Linie aus zurück ins Feld. Die Donaustädter setzten daraufhin alles auf eine Karte und wurden belohnt. Nach einem langen Ball von Keeper Fabijan Buntic leitete Denis Eckert Ayensa auf Marcel Gaus weiter – und der Defensivmann sorgte mit seinem zweiten Treffer des Tages für das 2:2 (64.). In der Folge neutralisierten sich beide Teams weitestgehend, sodass die Partie am Ende leistungsrecht mit 2:2 endete.